Mit Tränen in den Augen, voller Dankbarkeit und Rührung sitzt sie vor mir, meine geliebte Mama.
66 Jahre alt.
Mir fällt auf, dass sie grau wird, ihre Hände sind weich und fühlen sich an, wie die meiner Oma. Oft habe ich die Hände meiner Oma gestreichelt und darüber gestaunt, wie weich und warm ihre Haut ist.
Ja, Mami wird älter und der Gedanke macht mir Angst. Wie ich jemals ohne sie existieren kann ist für mich unvorstellbar, denn niemand kennt mich so gut wie sie.
Es ist ein Geschenk (meistens :-)) jemanden im Leben zu haben, von dessen Weisheiten man profitieren kann, jemand der die Ängste, Sorgen und Beweggründe, die man so hat, so gut verstehen kann.
Mit der Kaffeetasse in der Hand, erzählt sie von ihrem Leben mit ihren 14 Geschwistern in Singapur. Sie war eine Rebellin. Also brachte man sie und ihre Familie mit Schiff und Kutsche nach Pakistan. Auf der Reise starb einer ihrer Brüder. Angekommen, sperrte man meine Mama und ihre Schwestern in ein Haus und sie mussten sich komplett verschleiern. Ihre Brüder wurden von den Einheimischen als Chinesen (sie sind halb Chinesen, halb Pakistaner) bezeichnet und verprügelt, sie pflegte sie wieder gesund. Einmal gab es eine Überschwemmung (bis zum Halse waren sie im Wasser versunken) und sie musste einigen Ihrer Geschwister das Leben retten.
Meine Mutter war schlau, immer schon.
Sie dachte außerhalb der Box, ihr Horizont war so viel weiter als andere sich das vorstellen konnten.
Sie hatte ständig Eingebungen, dass das Leben, das man ihr als Normalität präsentierte – um sie zur Ruhe zu bringen (sie sollte ja nicht ihre gefügigen Geschwister anstecken) – nicht alles sein könnte.
Irgendwann hatte ihr Vater genug, ein strenger, pakistanischer Geschäftsmann war er.
Als sie 13 Jahre alt war, sollte sie in England mit einem wesentlich älteren Geschäftsmann zwangsverheiratet werden, man wollte sie ruhig stellen, also lief sie weg. Es müsse ja mehr geben. Es gibt mehr. Nachdem sie weggerannt ist, schlief sie erstmal unter der Brücke, sie hatte Glück, denn ihr Vater, der natürlich nach ihr suchte, wurde bald aus dem Land verwiesen.
Was dann alles passierte, war unglaublich und wenn sie mir die Geschichte erzählt, habe ich manchmal das Gefühl, dass meine Mutter alles das nur erlebt hat, damit meine Schwester und ich leben können.
So wie jetzt.
Unsere Berufung finden und leben.
Meine Mutter sagt, sie sieht es als Ihre Aufgabe an für andere zu sorgen und deshalb rührt es sie immer sehr, wenn auch mal jemand an sie denkt.
Ich glaube, wenn ich jemand als selbstlos bezeichnen würde, sie wäre es.
Sie sagt, mit Tränen in den Augen, ein Lächeln in ihrem müden aber weisen und wunderschönen Gesicht:
„Das Leben so zu nehmen wie es ist und doch gleichzeitig so zu gestalten wie man es haben möchte, das ist eine Kunst. Der Mensch ist ein Künstler.“
Sie sagt, sie hatte Schutzengel und immer wiederkehrende Erkenntnisse, die sie nachts aufgeweckt haben, um ihr Lösungen aufzuzeigen. Und wieder fühle ich diese unfassbare Liebe und Dankbarkeit: Habe ich ein Glück, sie als Mama zu haben.
Ja. Das Leben ist ein Kunstwerk: Man kann sich selbst vermalen oder ein Windstoß kippt die Farbe um.